L´viv, Lemberg, Löwenberg, Lwow.
Nach Lemberg
Dieser Reader begleitet mit seinen Texten und Fotos eine Reise in ein faktisch nicht mehr existentes Land, in einen historischen Raum, der nur noch im Sinne einer "literarischen Rekonstruktion" (Alois Woldan) zugänglich ist: Galizien.Das nach seiner ersten Hauptstadt Galytsch benannte Großherzogtum des 11. Jahrhunderts konnte seine Selbständigkeit im politischen Spannungsgefüge zwischen den Monarchien Rußland, Österreich, Ungarn, Polen und Preußen-Deutschland nicht lange Zeit erhalten. Bis zu seinem Aufgehen in der Zweiten polnischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg 1918 gehörte es zunächst zu Ungarn, dann zu Polen und zum Schlus als größtes Kronland "Galizien und Lodomerien" zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Im diesem Namen klingen die ukrainischen Fürstentümer Halyc und Volodymyr nach und legen somit eine Spur zur Ukraine, zu der das östliche Galizien nach seiner Einverleibung durch Sowjetrußland 1945/46 heute gehört. Unser Besuch Lembergs gilt damit historisch u.a. der
vormals östlichsten Verwaltungsstadt der K.u.K.-Monarchie, also einer mit allen Verwaltungsstrukturen und –gebäuden ausgebauten Residenzstadt, die von einer deutschsprachigen polnisch-deutschen Oberschicht dominiert wurde.
In der Perspektive der deutsch-österreichischen Presse der Jahrhundertwende galt Galizien als eine rückständige, exotische Mischung verschiedenster Kulturen, Religionen und Sprachen: Ukrainer, Polen, Deutsche, Österreicher, Ungarn, Armenier, Griechen, Bojken, Lemken, Huzulen, Lippowaner, Sinti und Roma, Tartaren (...), Muslime, Christen verschiedener Kirchenzugehörigkeit und Juden lebten lange Zeit konfliktreich, aber einheitlich in politische Strukturen eingebunden miteinander. Das gegenwärtige politische Szenario in diesem Teil der Welt beherrschen nach dem Zerfall der Sowjetunion bekanntlich derzeit eher Entmischungs- und Nationalismusbestrebungen, die kriegsträchtige, völkisch und ethnisch besetzte, immer chauvinistisch und diskriminierend wirkende Leitbegriffe transportieren.
Die Multikulturalität Galiziens war durch eine ungeheure kulturelle Produktivität gekennzeichnet. Die Liste der klangvollen Autorennamen liest sich eindrucksvoll: Leopold von Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos, Scholem Alejchem, Bruno Schulz, Joseph Roth, Józef Wittlin, Minna Lachs, Ivan Franko, u.a.m. Doch wozu sie alle kennen, wozu das alles wissen wollen? Ein Freund notierte auf einer Postkarte aus Agrigent (Sizilien), dass es sich mit einer vernünftigen Bildungsausstattung doch auch deshalb so wunderbar lebe, weil man nirgendwo mehr allein sei. Als gebildeter Mensch könne man schließlich wissen, dass z.B. der vorsokratische Philosoph Empedokles aus dieser Gegend Siziliens stammt. Damit gewinnt man Orientierungs- und Wegmarken, findet Routen durch Unbekanntes, z.B. den Weg auf den Kraterrand des Ätna, in den hinab der Philosoph sich der Legende nach gestürzt haben soll. Bildung kann also Orte, Erfahrungen und Menschen zu Strukturen verklammern und verdichten, sie schafft es, das Einzelne begreifbar zu machen als Teil eines Ganzen, welches sich ständig im Fluss befindet und das zu verstehen eine lebenslange, interessante und genussvolle Aufgabe sein kann.
Heute präsentiert sich Lemberg als ukrainische Industriestadt mit sowjetischer Prägung und Geschichte, als eine Millionenstadt mit erheblichen ökonomischen Problemen. Ein westeuropäischer Stundenlohn entspricht mitunter einem durchschnittlichem Monatslohn. Wer mit der DM nach Lemberg fährt, kommt als "Deutschmarkbaron" (Walter Moßmann) an; - sich nicht als solcher zu verhalten, braucht Wissen über die sozialen und ökonomischen Rahmendaten ebenso, wie Gespür für Notlagen und Aufrichtigkeit gegenüber den dort lebenden Menschen, die sich mit ihren Wünschen und Sehnsüchten nach Westen richten.
Das Alltagsleben der LembergerInnen wird durch erodierende Grundversorgungen erschwert. Die in Freiburg, Lembergs deutsche Partnerstadt, erscheinende Badische Zeitung sprach in diesem Winter von katastrophalen Zuständen, von Hunger und medizinischer Unterversorgung bei den Beziehern von Durchschnittseinkommen und
Sozialschwachen, sowie insgesamt einem wegbrechenden Sozialsystem, das faktisch nur noch auf dem Papier existiere.
"Pogrom" ist ein russisches Wort und bedeutet Verwüstung. Immer wieder hat es antisemitische Ausschreitungen in Rußland, der Ukraine und der Sowjetunion gegeben. Auch Lemberger Juden erlebten übelste und scheußliche Übergriffe der Russen, Ukrainer, Polen und Deutschen; zuletzt bei dem Ausrottungsfeldzug der deutschen Nazis gegen die Juden in Osteuropa. Aber sie leisteten auch Widerstand, gingen als Partisanen in die Wälder und schlugen sich tapfer sowohl gegen kollaborierende Ukrainer als auch gegen die deutsche Wehrmacht und mordende Einsatzgruppen. Eliyahu Yones kürzlich erschienenes Buch "Die Straße nach Lemberg. Zwangsarbeit und Widerstand in Ostgalizien 1941-1944" erzählt davon eindrucksvoll.
Ukraina, "Grenzgebiet", "Land am Rande", "Rand der Welt", -diese Aufzählung etymologischer Aspekte ist heute leider auf unerhörte Weise wieder politisch real: die Festung Europa schließt sich an der Ostgrenze Polens ab und erschwert damit die wechselseitige Annäherung zwischen Polen und der Ukraine. Die Ukraine findet sich ausgegrenzt vom Wirtschafts- und Kulturstrom Europas und an den Rand gedrängt. Das wenige, was wir wissen, ist zumeist Klischee, Falsches und Ungeprüftes,- eine Folge auch der Ausgrenzung. Schulbildung" bleibt weiterhin westeuropäisch focussiert und sie erscheint zudem wenig willig, die Peripherie Europas durch die Auswahl der Inhalte auch kulturell und historisch wahrzunehmen und in den Prozess der Integration mit einzubeziehen. Unser Besuch Lembergs kann auch als Zeichen für mögliche Grenzüberwindungen gewertet werden, als Zeichen für die Bereitschaft zum Gespräch über Grenzen hinweg.
Einen 56 S. umfassenden Reader zur Reise finden Sie hier