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Diethelm Blecking / Rainer F. Kokenbrink

Krakau - Auschwitz - Krosno 

 

Polen und Deutsche, Nachbarn seit tausend Jahren, eine Geschichte reich an Begegnungen und reich an Mißverständnissen, deshalb wird es Zeit, daß jetzt Brücken zum Nachbarn geschlagen werden, damit Europa auch nach Osten zusammenwächst.

Polen "dieses märchenhafte, wehrlose Land, von dem schwarze Adler sich nähren" (Adam Zagajewski), der preußische Adler und der Adler des Zaren, eingezwängt zwischen Deutschland und Rußland, erstes Opfer des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges im Osten. Die großen Vernichtungslager wurden im besetzten Polen errichtet, Auschwitz (poln. Oświęcim) wurde zum Symbol eines Zivilisationsbruchs von unvorstellbaren Ausmaßen. Auf dem Wawel, der Krakauer Königsburg, saß der deutsche Generalgouverneur Hans Frank und raubte das Land aus, wie es kein Mafiaboss gieriger hätte angehen können. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem fünf Millionen polnische Menschen ermordet wurden, war Polen dennoch die wichtigste Station für die Deutschen auf dem mühsamen Weg zur Aussöhnung mit den Völkern Osteuropas. In Polen wurde dann in den Aufständen von 1956, 1970, 1976 und schließlich mit der Gründung der Solidarność 1980 der Grundstein für die Befreiung Osteuropas vom Stalinismus und damit im Grunde auch für die deutsche Einigung gelegt. Gute Gründe die Begegnung mit Polen und mit einer polnischen Schule zu suchen.

Zum anderen hat das Ruhrgebiet traditionell enge, fast familiäre, Beziehungen zu Polen, denn seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zog es aus den Ostprovinzen des Reiches eine polnischstämmige Arbeitsmigration hierher, die im Revier seßhaft wurde und das "Ruhrvolk" in seiner Mentalität geprägt hat. Heute begegnen polnischsprachige Aussiedler im Ruhrgebiet der vierten Generation der Ruhrpolen. An der Gesamtschule Hattingen lernen zahlreiche polnischsprachige Kinder und Jugendliche. Noch mehr gute Gründe also eine Studienfahrt nach Polen zu unternehmen und den Versuch zu starten, eine Schulpartnerschaft zu organisieren.
Wir haben deshalb Kontakt mit einer Oberschule in Krosno, einer Stadt in Südostpolen am Rande der Niederbeskiden, einem Mittelgebirge, etwa 160km von Krakau entfernt gelegen aufgenommen. Die Stadt ist mit 61000 Einwohnern etwa so groß wie Hattingen. Hier in Westgalizien hat der spätere Krupp-Manager Berthold Beitz im Zweiten Weltkrieg seine Karriere als Wirtschaftsführer begonnen und in Polen zahlreichen verfolgten Juden das Leben gerettet.

Aber neben dem Schatten der jüngeren Geschichte, dem man in Polen nicht entkommt, muß natürlich erwähnt werden, daß Krosno in einer wunderschönen Mittelgebirgslandschaft liegt, die einzigartige Naturerlebnisse ermöglicht. Dichte Buchenwälder mit reicher Flora und Fauna, herrliche, fast unberührte Flüsse und Bäche, der Solinskie-See; - und schließlich: in der dünnbesiedelten Wojwodschaft Krosno ziehen die letzten wilden Wölfe Polens ihre Fährte. 

Wir werden jetzt im Frühjahr eine "Schnuppertour" nach Krosno unternehmen, und die polnischen Schülerinnen und Schüler werden im Herbst zu einem Gegenbesuch nach Hattingen kommen. Dieser Begegnungsrythmus soll fortgesetzt werden.

Die alte Königsstadt Krakau und das wiedererstandene Leben im alten Judenviertel Kazimierz wird eine weitere Etappe unserer Reise bilden. In Auschwitz werden wir die Lager und die Jugendbegegnungsstätte gemeinsam mit polnischen Jugendlichen besuchen, um dem Vergessen zu begegnen, daß viele Überlebende als Sorge umtreibt, wie es der ehemalige Häftling und Mitbegründer der Gedenkstätte Tadeusz Szymanski ausgedruckt hat: "So wie das Licht meiner Augen immer schwächer wird und ich die Welt nur noch wie hinter einem Schleier oder in Umrissen wahrnehme, so ähnlich wird es, befürchte ich manchmal, die Welt mit Auschwitz halten". Wenn nach einem chassidischen Wort das Geheimnis der Erlösung in der Erinnerung liegt, müssen die jungen Leute diese bewahren und weitertragen.

Die Texte dieses Readers können nur Behelfsbrücken in die Vergangenheit und die Gegenwart Westgaliziens schlagen. Sie erinnern an Deutsche wie den Dichter Johannes Bobrowski, dessen Lyrik und Prosa tief in der Landschaft Osteuropas wurzelt, das er Sarmatien nannte. Die Zeilen beziehen sich auf ein Judenpogrom. Mit Tadeusz Róüewicz und Tadeusz Borowski werden zwei Schriftsteller aus Polens verlorener Generation vorgestellt, die ihre Jugend in der Zeit der Naziherrschaft verbrachte, an der Untergrunduniversität des polnischen Widerstands studierte und aktiv am Kampf gegen die Besetzung teilnahm. Den Stand der deutschen Erinnerungskultur, die jenseits der Sonntagsreden von Politikern eher eine "Kultur der Amnesie" (Johann Baptist Metz) ist, beschreibt die Tatsache, daß Borowskis zu Recht gerühmtes Auschwitz-Buch (Proszę pana, do gazu!) erst seit kurzem wieder im Buchhandel erhältlich ist.

Mit den Menschen Galiziens starb eine Sprache. Der Volkssänger und große jüdische Dichter Mordechaj Gebirtig, an den in Kazimierz eine Gedenktafel erinnert, schrieb in jiddischer Sprache. Gebirtig, der Mitglied des allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes war, wurde 1942 von den Deutschen erschossen. Gegen das Vergessen kämpfen Historiker und Journalisten. Maria Kłańska führt in die Geschichte der Krakauer Juden ein und vergißt nicht das Problem des polnischen Antisemitismus. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert erinnert daran, daß die Vertreibung und Vernichtung der Juden auf deutscher Seite eine gigantische Bereicherungsaktion zur Folge hatte. Andreas Breitenstein, Journalist der Neuen Zürcher Zeitung beschreibt eine Reise in die Gegenwart von Auschwitz, seine Kollegin Hannegret Biesenbaum entwirft in der Frankfurter Rundschau eine Art Reiseführer für Kazimierz. Gegen linke Selbstgerechtigkeit soll schließlich eine Rezension von Wolfgang Sofsky schützen. Auch die linke Volksgemeinschaft kannte ihre Lager. Sofsky führt in die Struktur des sowjetischen Lagersytems ein. Die Ratlosigkeit bzw. Hilflosigkeit angesichts der Shoah demonstriert der polnische Aktionskünstler Zbigniew Libera mit seinem provozierenden "Auschwitz aus der Legokiste". Ein Hinweis auf Thomas Sandkühlers Buch über die Endlösung in Galizien und die Rolle des oben erwähnten Berthold Beitz bei der Rettung jüdischen Lebens beschließt den historischen Teil des Readers. Etwas verloren mag dem Leser die dürre Stadtinformation zu Krosno vorkommen. An diesem Kapitel jedoch sollen die SchülerInnen selber arbeiten. Wie es in einem Lied der Gewerkschaft Solidarność heißt:"za chleb i wolność i nową polskę", Brot und Freiheit sind in Polen gesichert. Am Drehbuch für das neue Polen in einem Europa, das seit 1989 sein Gesicht dramatisch verändert hat, schreibt die junge Generation. Unser Aufgabe war es, Gelegenheiten zur Erinnerung und zur Begegnung bereitzustellen.