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Der Deutschunterricht. Eine Idee.

 

Der Deutschunterricht findet längst mit mehrsprachigen und multikulturellen Lerngruppen statt. Diese reiche Bildungsressource wird nach wie vor von den zumeist monokulturell ausgebildeten und ebenso agierenden Lehrern nicht entdeckt. Die unterrichtliche Einsprachigkeit in der Textauswahl und Texterschließungsmethodik unterläuft die für viele SchülerInnen längst alltägliche Mehrsprachigkeitserfahrung in den Pausen. Jugendcliquen formieren sich nach wie vor entlang der gemeinsamen Migrations- und Sprachhintergründe zu z.T. hermetischen Zirkeln, da der interkulturelle Dialog ohne sprachliche und methodische Hilfestellungen, Anregungen und auch schlichte Information nicht zu haben ist.

Im Folgenden stelle ich am Beispiel des berühmten Hikmetgedichtes "Dâvet" modellhaft eine Möglichkeit vor, mehrsprachigen Deutschunterricht für alle gewinnbringend zu organisieren. Anzuknüpfen ist selbstverständlich an den konkreten sprachlichen Gegebenheiten einer Lerngruppe. Ich verstehe dabei die Anregungen als offene Impulse und nicht als didaktische Blaupause.

Umfangreicher ausgeführt können Sie das Konzept eines Deutschunterrichtes mit fremdsprachigen Gedichten nachlesen in: Rainer F. Kokenbrink; Ich versteh kein Wort, nur die Ordnung. Anregungen für einen interkulturellen Deutschunterricht mit anderssprachigen Gedichten. In: Das Lehrerhandbuch. August 2008. Stuttgart, Berlin 2008

 

Unterrichtsschritte:

1. Türkischsprechende SchülerInnen sollten in einem Vorgespräch gebeten werden während der ersten Unterrichtsphasen zunächst nichts zu sagen.


2. Der türkische Text wird an die Tafel geschrieben. Die SchülerInnen werden gebeten ihn abzuschreiben. Dieses Verlangsamen schafft Aufmerksamkeit für die einzelnen, z.T. unbekannten Buchstaben, diakritischen Zeichen, und führt die Fremdartigkeit der Worte ausdrücklich zu Bewußtsein, da i.d.R. buchstabenweise, also ohne Sinnerfahrung abgeschrieben werden muss.


3. Die nicht türkisch sprechenden SchülerInnen werden aufgefordert, das Gedicht zu lesen. Die damit einhergehende Komik und Unsicherheit verarbeitet bereits die bewusstgewordene Fremdheit, die sich einer "Integration" ins eigene Sprechen noch verweigert. Zugleich tritt die phonetische Ebene des Gedichtes und der anderen Sprache hervor. Möglicherweise werden hier schon Reime und Wortwiederholungen deutlich. Die türkischsprachigen Schülerinnen fungieren als "Experten" zu Fragen der Aussprache.


4. Die türkischsprechenden SchülerInnen tragen das Gedicht vor.


5. Alle SchülerInnen sollen die Gedichtform beschreiben. Hier liegt die große Leistungskraft dieses Verfahrens: Tritt bei der Lektüre deutscher Texte zumeist die stetig erfolgende Bedeutungsaufnahme beim Lesen einer bloßen Formbetrachtung in den Weg, so ergibt sich hier die Möglichkeit vor dem Sinn (Übersetzung) die Form zu betrachten.


6. Die SchülerInnen sollen sich überlegen, welche vier, fünf Wörter sie zunächst übersetzt haben möchten. Dabei dürften Formgründe für die Auswahl genannt werden. (Die sich in der dritten Strophe (N. Hikmet;Davet) wiederholende Überschrift, das jeweils letzte Strophenwort, die Ausrufe etc.) Mit der Übersetzung dieser Worte ergibt sich bereits ein Begriffsnetz, das stimmige Hypothesen zum Lyrischen Ich vor dem Hintergrund der Formbeobachtung ermöglicht.


7. Anschließend bieten sich je nach Lernsituation weitere Übersetzungsversuche oder aber die kontrastive Bearbeitung der zwei verschiedenen Übersetzungen an. Nicht nur die genauere Gedichtinterpretation auch die Übersetzungsproblematik selbst und damit die linguistische Relativität kann zum Gesprächsthema werden. Eine Schülerin des 9.Jg. fand dabei die treffliche Formulierung, dass die Übersetzung von Yüksel Pazarkaya ein türkisches Gedicht in deutscher Sprache und die Dagyeli-Bohne-Übersetzung eher ein deutsches Gedicht sei, das eine türkische Vorlage habe. 
In diesem Gesprächsteil entfaltet sich meiner Erfahrung nach häufig ein sprach- und kulturübergreifender Dialog, der nicht nur fachlich, sondern auch gruppendynamisch nachhaltig wirkt und sprachlich-kulturelle Zugehörigkeit zumindest vermittelt, verstehbar und vielleicht auch wählbar werden lässt.