„Ein jeder Engel ist schrecklich.“
Langer Blick auf eine Barlachskulptur.
Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang,
den wir nochgrade ertragen,
und wir bewundern es so,
weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören.
Ein jeder Engel ist schrecklich.
(R.M. Rilke)
© Ernst Barlach Lizenzverwaltung Ratzeburg
In der Antoniterkirche in Köln schwebt ein Engel. Er ist dunkel und an Ketten aufgehängt und ganz weltverloren. Mit geschlossenen Augen scheint er unendlich leicht über einem Stein für die Gefallenen der zwei letzten Kriege dahinzuschweben.
Verschlossenen Auges wurde ich zu ihm geführt. Als du plötzlich die Hand fortnahmst, sah ich ihn, er schaute mich nicht an, obwohl ich ihm fast in Augenhöhe und ganz nah gegenüberstand. Das sah ich zuerst, ich erinnere es noch ganz genau: Er schaut mich nicht an. Mein Blick ging ins Leere, glitt ab, an seinen Seiten entlang und die Ketten hoch. Mir war als könnte er über allen Abgründen so dahinsein, leicht, in sich und nicht herabblickend auf das Elend und den Schmerz, aus dem die Blicke doch immer hinaufstreben. Sähe man den Schwebenden Engel dann, selbst gepeinigt, mit Weh und hoffnungsvoll, fast glücklich, dass man ihm angesichtig würde, wie gewaltig wäre dann der Sturz hinab und zurück in die eigene Qual. Und dies verzeihe ich nicht: Die enttäuschte Hoffnung, die kalte Schulter des Himmels über mir. Wie kannst du Todesengel die Augen schließen, wie die Arme so übereinanderlegen vor deiner Brust, wie die Welt nicht sehen wollen?
Der Engel mit dem Gesicht von Käthe Kollwitz liegt im Grab der Lüfte verkehrtherum. Blickte er nach oben hoffend hinauf, trüge er sein geliehenes Gesicht zu recht. Denn die Zeichnerin der Schmerzen schloss die Augen nicht, öffnete unsere aber weit und zärtlich fast für die Traurigen in dieser Welt. Nach einem Wort Hanna Kralls hat man auf deren Seite zu sein, zugewandt, so meine ich.
Lege ich die Arme so über meine Brust wie der Engel, fühle ich unter dem Atmen meinen Herzschlag und nach einiger Zeit pocht er dann am Puls und kurze Zeit später springt er hinüber in die linke Hand, die sich rechts wohl fremd vorkommt und den Herzschlag zu sich lockt. Mir war es eine unangenehme Haltung, aus der kaum das Atmen hinausgelangte.
Und ich denke an die gequälte 18jährige Helena Wanda Blazusiakówna in der Gestapozelle in Zakopane, hoch in den polnischen Bergen, die allein, geschunden, nur im Mariengebet noch Mensch war, das wir von ihr in die Wand gekratzt finden und zu dem Henryk Górecki so wunderbar einen Satz symphonische Musik fand. Ihr Blick ging hinauf! Dein Blick, Engel, finge ihn nicht auf!
Später las ich, der Engel von Ernst Barlach sei nahezu vollständig in sein Gewand gehüllt, in dem er gleichsam als Geistwesen versiegelt in der Luft liege. Nur die nackten Füße sollen unter dem Tuch hervorschauen. Diese Füße sah ich nicht, obwohl ich lange vor ihm stand. Seine Füße muss ich sehen, um wieder hinaufschauen zu können. An ihnen haftet noch die Erde, auf der er stand, für die er sie hat. Das Fußpaar verspricht die Landung und Heimkehr in unsere zu großen Träume und gerne würde ich die fleischigen Zehen und die Form der Nägel mit meinen Blicken abstreifen, ob an ihnen noch die Erinnerung an nasse Wiesen haftet.
Barlachs Engel treibt mich um. Anders als der Benjaminsche Engel der Geschichte treibt ihn nichts weg, scheint er nicht hilflos dem Sturm der Geschichte ausgeliefert, sondern frei in seinem Entschluss uns Hoffende zu verlassen.
Ein jeder Engel ist auch wunderbar. Nichts reicht an ihn heran, verwirrt ihn, vermag in ihm ein Leid zu sein. Er ist unberührbar von der Menschen Art und Weise, er geht nicht auf im Besorgen, Verzweifeln und Lieben. Die Botschaft ist diese: Es geht. Sieh mich, der du nicht bist, nicht sein kannst. Hinter dem Menschenmöglichen bin ich. Deine Hilflosigkeit füllt die Erde, aber nicht den Himmel. Jenseits aller eurer Schrecken bin ich, einsam zwar, ganz in mir gesammelt und Höheres und mit euch ohne Antworten. Es gibt nach euch mich.
Und manchmal denke ich dann an die guten Mächte, von denen wir umgeben und die sich nur den Betenden erschließen oder den Dichtenden, wie Dietrich Bonhoefer in seiner letzten Sylvesternacht. Dann sehe ich den Engel Barlachs ohne Groll und nur kurz. Fast meine ich ihn lächelnd. Doch mit den Grabplatten unter ihm beginnt mein Blick erneut. Im Schwebenden Engel eine tröstende Hoffnung für die Erinnerten zu sehen, gelingt mir nur spät und flüchtig.
© Ernst Barlach Lizenzverwaltung Ratzeburg
© Rainer F. Kokenbrink.
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