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Diethelm Blecking / Rainer F. Kokenbrink

Weimar & Buchenwald

"Weimar war fern, Auschwitz sehr nah". Mit dieser Bemerkung hat der Literaturwissenschaftler Walter Jens die deutsche Literatur im ersten Jahrzehnt nach 1945 charakterisiert. Die Stadt Weimar steht hier als Symbol für die deutsche Hochkultur, das Volk der Dichter und Denker. Luther, Schiller, Goethe, Wieland, Herder, Nietzsche, Liszt, Thomas Mann haben hier gesprochen, gelebt oder gearbeitet. Das von den deutschen Nationalsozialisten ersonnene Konzentrationslagersystem dagegen, das Vernichtungslager unweit der alten polnischen Königsstadt Krakau gelegen, markiert den Zivilisationsbruch und die Stätte des Genozids an den europäischen Juden. Beide Seiten der deutschen Geschichte sind bis heute in Weimar präsent. Die Gräber von Goethe und Schiller in der Fürstengruft sind mit den Resten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg über Weimar konfrontiert. Hier waren Widerstandskämpfer und politische Oppositionelle aus vielen europäischen Ländern eingesperrt, wurden gequält und durch Arbeit vernichtet. Die Geschichte des Lagers Buchenwald ist aber auch die Geschichte des Widerstands. Im KZ organisierte eine europäische Elite aus Resistanceleuten, Künstlern und Wissenschaftlern das Überleben und die Befreiung des Lagers. Die Namen von Jorge Semprún , Ludwig Fleck, Elie Wiesel, Fred Wander und viele andere stehen für die Wissenschaftler und Schriftsteller, die darüber berichtet haben. Nach 1945 starben im sowjetischen Speziallager Buchenwald II weiter Menschen unter barbarischen Umständen. Metallsäulen, jede für einen Toten, beschreiben heute in einem lichten Laubwald die Gräber für mehr als 7000 Menschen.


Nach einem Satz des französisch-spanischen Schriftstellers Jorge Semprún hat das deutsche Volk mit Faschismus und Stalinismus beide blutige Diktaturen dieses Jahrhunderts erfahren und damit die besondere Chance und Verantwortung, eine freiere Zukunft zu entwerfen. Die folgenden Texte sollen deshalb in den komplizierten Zusammenhang von Kultur und Barbarei, die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno) einfuhren, für die Weimar/Buchenwald ein besonderer Ort ist. Da dieser Reader anläßlich einer Kursfahrt des Profilkurses Deutsch/Geschichte zusammengestellt worden ist, also innerhalb einer öffentlichen Einrichtung, die den Anspruch erhebt, mit Erziehung zu tun zu haben, sehen wir uns veranlaßt, unser Erziehungsziel zu formulieren. Wir sind mit dem Frankfurter Lehrer der Meinung, "daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist". Auch hierfür ist Weimar/Buchenwald ein besonderer Lernort.


Wir reisten mit Texten, die quer zu den üblicherweise SchülerInnen an die Hand gegebenen Informationssammlungen und reiseführerähnlichen Basisliteratur lagen. Wir versuchten mit der Textauswahl bewusst heterogene Aspekte und vernachlässigte Zugangsweisen zu verklammern, um der Gefahr vorzubeugen, daß Weimar und Buchenwald als anschaubar vermitteltes und memorierbares Schulbuchwissen auf eine Lehrstoffagenda gesetzt werden könnte. Vielmehr wollten wir die Unabschließbarkeit und deshalb gegenwärtige Reflexionsarbeit an einem Leittopos dieses Jahrhunderts herausstellen und einfordern. Imre Kertész´ Gedanken schließen hier an.


Wir reisten mit Texten, über die gesprochen werden mußte. Sie zeichneten keinen Weg durch die Stadt, sie waren keine Reiseführer. Neben den vielen sicher geführten Schulklassen mußten sich unsere SchülerInnen eher als Suchende erleben, eine wie wir meinen wesentliche Erfahrung.


Die Anlage unseres Besuches in Weimar und Buchenwald versuchte eindeutige Vereinnahmungen der Stadt für ein kulturgeschichtlich abgeleitetes Selbstverständnis1 zu unterlaufen, wie es viele (Deutsch)Lehrwerke immer noch nahelegen. Jürgen Busches Überlegungen führen einleitend in diese Struktur und Problematik eines Erinnerns ein, welches nur rückwärtsgerichte, museale Verstehenszugriffe auswirft, die sich bei näherer Betrachtung als kontraproduktiv erweisen2 , da aus ihnen keine Zukunftskonzepte entwickelt werden können. Lediglich mumifiziertes und konservierendes Fortschreiben stereotyper, zutiefst fraglicher Traditionsfiguren gelänge auf diese Art und Weise.


Auf diese Probleme stößt man auch auf dem Gelände der Gedenkstätte Buchenwald. Hier, nicht so sehr in Weimar, treffen zwei verschiedene Denkmalskonzepte, also manifestierte Erinnerungsformen aufeinander. Die blanken Stahlsäulen im lichten Wald auf dem Areal des ehemaligen Speziallagers II, jede Säule ein Toter, hier, die monumentale Inszenierung des Buchenwaldmahnmals als steingewordene Vereinnahmung der Toten für das Staatsverständnis der ehemaligen DDR dort. Verschwindend klein der einzelne Mensch auf den Stufen unter dem Glockenturm, pathetische Worte des Hauslyrikers J.R. Becher im Halbrund der Treppen zu den Aschetrichtern. Diese fast ein Ornament im schwülstigen und peinlichen Großentwurf des Mahnmals. Zwischen diesen Antipoden galt es einen eigenen Erinnerungs- und Verstehensprozeß zu entwerfen, der davor bewahrt, die Gedenkstätte oder auch Weimar zu kulturellen Gefängnissen3 werden zu lassen, in denen die Komplexität der Geschichte vereinfacht und Unliebsames aus dem Gegenwärtigen verbannt wird.


Die literarischen Texte dieses Readers, insbesondere die Auszüge aus den Werken Jorge Semprún und die Erzählung Fred Wanders stehen für die Fülle an Versuchen das Ungeheuerliche zu sagen. Während Wanders Erzählung den Blick auf die Kinder im Lagersystem lenkt, zwingen die Semprúntexte die Stadt Weimar zweifach zur Anwesenheit auf dem Appellplatz: einmal in Gestalt ihres Geheimen Rates, der über die Lagertorinschrift räsoniert, und zum anderen Mal die Weimarer BürgerInnen in Gestalt einer Mieterin, die das Lagerszenario vom Wohnzimmer aus betrachtet durchaus gemütlich empfindet. Primo Levis berühmtes und erschütterndes Gedicht am Ende des Readers verbindet und vertieft die literarischen Zugänge zum Grauen abschließend zu jenem sinnkräftigen Ganzen, das sprachlos für Augenblicke macht.
Wir reisten mit Texten. Unterricht wurde so auf eine Weise sinnvoll, da über das Medium Literatur eine Achronie an einem Ort entfaltet wurde, nicht "als gleichgültiges Nebeneinander sondern (als) Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs"4 , so daß wir von mehreren Stimmen aus verschiedenen Epochen begleitet die Orte in einer reichhaltigeren Aspektfülle erleben5 konnten.


Die Auszüge aus Kogons Standardwerk zum SS-Staat akzentuieren neben Yoram Kaniuks Bemerkung eine besonders perfide Ungeheuerlichkeit, die in Beamtendeutsch gezwängte Hierarchisierung der Hölle.
Wir reisten mit Texten, die unsere Reise zum Gespräch über Menschlichkeit, Barbarei, Aussöhnung und Verstehenwollen werden ließ. Hier wurden die Überlegungen an eine Ausweitung und Verlängerung des beschrittenen Gedankens groß. Daß wir Ursachen der Verquickung von Kultur und Gewalt z.B. im Nationalismuswahn des ausgehenden 19.Jh. erblickten, die Unfähigkeit zur Fremdenbegegnung damit verbanden, spiegelt Geprächsverläufe und Aufklärungsbedürfnisse der SchülerInnen wieder. 
Osteuropa, unsere kaum bewußt gehaltene, oft verdrängte Nachbarschaft zu Polen und Tschechien, Auschwitz, ...- gerieten fragend in den Denkhorizont der SchülerInnen. Der dem Reader abschließend beigegebene Text eines/r Schüler/in beschreibt dies eindrucksvoll.


 
 
  1. Im Zuge der baulichen Vorbereitungen für das Jahr 1999, in dem Weimar Weltkulturhauptstadt werden wird, fällt auch die Sorglosigkeit der Stadt im Umgang mit ihrer Geschichte auf. Der Abriss eines Teils des Marstalls, ehemaliger Sitz der Gestapo-Leitstelle, konnte noch durch Proteste in eine Ausschreibung für ein Mahnmal kanalisiert werden. Der Kasseler Künstler Horst Hoheisel gewann diese Ausschreibung mit einer Installation, die die geschredderten Gestapobaracken auf dem Innenhof des Marstalls verteilt. (Vgl. TAZ, 1. November 1997, S. 15.)
  2. Vgl.: Bronfen, Elisabeth; Grabstein der Erinnerung. Nimmt ein Holocaust-Denkmal das Gedächtnis gefangen? In: Süddeutsche Zeitung, 20/21.12.1997.:" Die Toten, mit denen wir nicht bereit sind zu leben, befreien sich aus dem Kerker des Grabes und kehren mit rächender Gewalt als Zombies und Phantome zurück."
  3. Vgl.: Bronfen, a.a.O.
  4. Lenk, Elisabeth; zit. nach: Wolf, Christa; Medea. Stimmen. München 1998
  5. Schulische Ausbeutung von Betroffenheit und Sprachlosigkeit angesichts der Lagereindrücke in Form von zu produzierenden Stegreifgedichten, wie manche didaktischen Empfehlungen es nahelegen, ercheint uns in hohem Maße fragwürdig. " Das freie Schreiben in dieser Situation ( der Konfrontation mit dem Lagergelände) bietet eine Möglichkeit zur nichtlinear-mediativen Verarbeitung dieser Reaktionen, zur Trauerarbeit im Sinne Mitscherlichs.""( Gemmeke-Stenzel, Bärbel; Die Auseinanderstzung annehmen. Schreiben als Erinnerungsarbeit der Nachgeborenen. In: Praxis Geschichte. Heft 6/1995, S. 48)
  6. Busche, Jürgen; in: Merian Weimar 4/94, Hamburg 94, S. 114.