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Grenzjagd

 

„Doa lieschdn douhda Rumehne!“ Der helle, unüberhörbar sächselnde, Knabenschrei gellt durch die Nacht. Ein Dutzend Taschenlampen schwenken herum und versuchen mich zu fassen. Hastig krieche ich durch das Unterholz des Niederspreer Teichgebiets und entferne mich langsam von den blitzenden Lichkegeln und aufgeregten Kinderstimmen. Im weiten Bogen schleich ich zu meiner Jagdunterkunft, in der damals Drittklässler weilten. Ich sitze bereits vor dem Haus und schaue in die sternenklare Nacht, als die Kinder von riesigen Sauen im Wald berichten, die man gehört und gesehen habe. Ihre aufgeregten Gesichter und Geschichten von Leichen und russischen Schmugglern verdeutlichen, dass die vorbereitete Nachtwanderung ein voller Erfolg war und wie Kinder die Normalität an der deutsch-polnischen Grenze erleben.

Vier Stunden später dämmert ein neuer heißer Sommertag in der Lausitz. Die Nächte bringen wenig Abkühlung und Schlaf, das Angehen der Kanzeln gelingt meist trockenen Fußes. Jetzt knistert gar das spröde Wiesengras hier am Wegrand, über das ich gehen muss, da ich das Knirschen der feinen Schottersteine meide. Das Rotwild zieht hier früh zu Holze, aber vielleicht zeigt sich der Bock von vorgestern noch einmal. Da links an der Wegeinmündung auf die kiefernumstandene Wiese war er vorgestern kurz ausgetreten: jung, zweijährig wohl, kaum lauscherhohe, dunkle Spieße. Eine Woche schon jage ich hier, der Bock zeigte sich nur einmal. Kein Fuchs, kein Schwarzwild, kein Rotwild. Dem Wild ist's zu heiß und mir reicht es mit der Hitze auch. Schon durchgeschwitzt, obwohl ich kaum auf der Kanzel bin. Die Mücken werden hoffentlich erst später kommen, die Stiche der Nacht jucken noch erbärmlich.

In der Morgendämmerung schälen sich erst die Konturen der Umgebung aus der schwarzen Nacht, dann laufen sie voll Farbe. Dann stellen sich die ersten Vogelrufe ein, manchmal schreckt weit hinten ein Stück Rehwild. Kein Wild zu sehen, kein Windchen. Die Mücken werden doch schon wieder rege, ihr Summen wird konzertant. Meine knappen Jagdtagebucheinträge der letzten Jahre zeichnen stets das gleiche Bild: Hitze, Staub, Schweiß, Mücken, kaum Wild. Doch noch geht die Sonne nicht auf. Dieser letzte Jagdtag im Juli wird erneut heiß werden, und ich glaube nicht daran noch zum Schuss zu kommen. Die Wiese ist immer noch leer, ich blättere schläfrig im ersten Licht meine Tagebuchaufzeichnungen durch und lese von erfolgreichen Jagden und Ansitzen. Die aufziehende Sonne trägt den Duft von Baumharz in die Kanzel, als ich abbaume.

Die Grenze ist ein dreißig Kilometer breiter Landstrich, in dem der Bundesgrenzschutz und der Zoll dieselben Befugnisse wie die Landespolizeien besitzen. Man sieht sie tags und nachts patroullieren und kontrollieren, seit dem deutsch-polnischen Abkommen und der Änderung des Asylrechts 1993 personell und technisch beeindruckend ausgestattet. Infrarot- und Nachtsichtgeräte melden jeden Hund oder Wolf, der durch die Neiße schwimmt, Kohlendioxidsonden erfassen in Containern die menschliche Atmung, Restlichtaufheller, Wärmebildkameras, Patroullienboote, Spürhunde und Hubschrauber kommen zum Einsatz. In das „Schengen Information System“, ein länderübergreifend vernetztes Computerdatensystem, werden Personendaten von zum Teil mobilen Terminals millionenfach eifrig aus- und eingelesen. Durchschnittlich 2,4 Beamte je Kilometer verrichten (im Vergleich: an der US-mexikanische Grenze 0,18 Beamten) dort mit erheblichem technischen Gerät ihren Dienst. Die Grenzen zu Polen und Tschechien sind nach dem Umbruch in Osteuropa dicht und noch mehr zu Armutsgrenzen geworden, als sie es schon waren.

Ich begegne in Medienberichten und Gesprächen einer Angst: Der Befürchtung, dass Kriminelle in die EU eindringen, um zu rauben, das System zu zerstören, sich mafiös zu organisieren und den rechtmäßigen Besitzern die Arbeitsplätze wegnehmen. Indem Flüchtlinge und Migranten, die so gut wie keine legale Möglichkeit der Einreise mehr haben, als „Illegale“ bezeichnet werden, verfestigt sich das Urteil, jeder heimliche Grenzgänger sei kriminell. Daher wundert es nicht, dass zwischen 50 und 75% aller Aufgriffe von Flüchtlingen auf Hinweise aus der Bevölkerung zurückgehen. In den Wäldern von Forst nach Görlitz wird scharf geschossen. Es schwimmen wieder Leichen in der Neiße So kamen in den Jahren 1993 –1996 45 Personen beim Versuch ums Leben, über die deutsche Ostgrenze in die BRD zu gelangen, die verübten Selbstmorde aus Verzweiflung nicht mitgezählt.

Die Kinder brechen gerade zu einer Insektensuche um die Karpfenzuchtteiche auf, als ich meine Ausrüstung für den Abendansitz in den Wagen lege. Eine heiße Wand kippt mir beim Öffnen der Wagentür entgegen, das Lenkrad glüht. Aber egal. Tür zu, die Mückengeschwader aussperren. Und jetzt ein letztes Mal auf die Kanzel bei Skrerbersdorf, sie müsste schon im Schatten liegen. Viel zu früh eigentlich, aber es ist der letzte Ansitz für viele Wochen. 
Der Sommer ist in der Lausitz erfunden worden. Regenwolken beeilen sich hinfortzukommen oder sie lassen die Muskauer Heide gleich links liegen. Die Landschaft ächzt unter der Hitze, jede kleine Wolke eine sich nicht erfüllende Hoffnung im tiefen Blau. Langsam gleiten nun die vertrauten Flächen und Dörfer an mir vorüber. Die schnurgerade Landstraße durch den Truppenübungsplatz entlang, mancher Abschussplan wird hier erfüllt..., am Landesforstamt vorbei, Bussarde kreisen noch wolkenhoch.... Jetzt rechts auf die neu ausgebaute Landstraße , parallel zur deutsch-polnischen Grenze. Vor mir leuchten Bremslichter..., Stau?..., Polizeiwagen, Mannschaften, Hunde..., Fahrzeugkontrolle: "Wo wollen Sie hin?" Der Blick des Beamten streift meine Jagdausrüstung auf dem Rücksitz. "Zur Jagd, dort hinten rechts, Revierteil..." "O.K.", fällt er mir ins Wort, "achten Sie auf Flüchtlinge, passen Sie auf, bewaffnet vielleicht, rufen Sie den BGS an, wenn Sie sie sehen, weiter bitte!" Der Wagen ruckt an, 500 Meter später biege ich in den Kiefernbestand ein und rolle leise aus. 

Ein kurzer Moment der Stille. Die Kiefernbretter atmen die tagsüber aufgesogene Hitze leise knackend aus, trunkene, dicke Käfer ploppen manchmal gegen die Kanzelverschalung, manche kratzen leise auf der Dachpappe. Bewaffnet... im Dunkeln stehen sie hinter einem Bau...wie komm ich hier wieder weg...Gedankensplitter ziehen eine Angst nach, die ich gar nicht will. Der Gedanke an meinen Rückweg zum Wagen wird ungemütlich. Gedanken an die Flüchtlinge mischen sich ein. Arme Hunde..., verzweifelt, allein, gejagt... -Nein, bewaffnet hinter Bäumen, mir auflauernd, im Dunkeln...

Plötzlich Lärm, ....ein Brummen, Dröhnen grollt heran. Das vertreibt mir das Wild, denke ich. Noch lauter und ich kann sofort abbaumen. 
Der Hubschrauber kommt im Tiefflug. Das laute Rotorgeräusch wird fühlbar, greift nach meiner Haut. Die Baumkronen, das Wiesengras flüchtet geduckt vor dem Rotorenstrudel und langsam sucht die Maschine den Waldrand ab, wendet, zieht auf mich zu. Sie ist nah, keine 60 Schritt, starrt mich an. Versteinert sitze ich in der heißen, dunklen Kanzel. Vor mir dies Riesenvieh! Ich seh den Piloten, ...er schaut hier hin..., jetzt bloß ruhig...ob er mich sieht?...ein Dreh, Windfetzen tosen heran, weg ist er. Das wars wohl mit der Jagd. Abbaumen. Es ist auch noch hell, flüstert die Angst.

Mit dem Verschwinden des Hubschraubers kehrt die Abendstille mit meinen Gedanken zurück; und auch ein Wunder noch, vor Aufregung gar nicht bemerkt: In feinen Fäden hängt Regen aus dem glattgestrichenen Taubenblau des Abends. Von Kühle keine Spur. In welchen Film bin ich geraten, hab ich das geträumt? - Mechanisch der Griff zum Glas, mein suchender Blick am Waldrand entlang, über die Wiese: Die zwei krummen Birken, der Büschel braunes Rispengras (in der gestrigen Morgendämmerung lange als Sau angesprochen...), der verwitterte Baumstumpen, der schmale Wechsel, die Wegeinmündung mit hellem Sand, der Bock... Der Bock? Doch..., ein Bock! Woher kommt er? Bei dem Lärm gerade? Er zieht auf die zwei Birken zu, gleich kommt er breit...Welcher Bock ist das? Im zitternden Glas die dunklen Stangen, nicht vereckt, sie tanzen zwischen den Stangen. Passt! Er ist's. Der Stachel im Absehen fasst das Blatt. Komm! Steh!, nein, er zieht weiter...

Er fällt schließlich im Knall, schlegelt. Mit der Zigarette verbrennt mein Zittern, Jubel und Zufriedenheit ziehen nach. Als ich den zweiten Bock am Waldrand ausmache, in gerader Verlängerung des Anschusspunktes, taumeln die Gedanken haltlos hin und her, Zweifel tragend: Auch dunkle Stangen... wo kommt der denn her?... Fehlabschuss... 20.45 Uhr, 's wird spät..., Fehlschuss?... was war das hier eben eigentlich?... die Flüchtlinge haben bestimmt den Schussknall gehört..., ob die hier sind?...

Es lag dann wohl doch der richtige Bock. Zwei- bis dreijährig. Lauscherhohe, dunkelgeperlte Stangen, aber doch ein Gabler, die kleine Vereckung sah ich nicht. Zufrieden fuhr ich auf den vollen Hof des Revierförsters, mitten in ein Hegerings- und Bläsercorpsjubiläum. Mein Bock wurde begutachtet, meine letzten Zweifel gingen im Händeschütteln und Totverblasen unter. Sie kamen wieder, als mein Präparator nüchtern vom Jährling sprach. In aller Ruhe, ohne Flugbegleitung und Fluchtaufregung hätte ich wohl nicht geschossen? - Hätte....

Meine Jagd ist vorbei. Halali. Andere gehen weiter.

 

„Am 29.2. 1996 wurde ein polnischer Staatsbürger in einem Waldstück nahe der deutsch-polnischen Grenzstadt Guben durch Schüsse von BGS-Beamten in die Schulter verletzt, als der polnische Staatsangehörige versuchte zu fliehen. (...)

7.5. 1996Neiße, Skrerbersdorf/ -1- polnischer Staatsangehöriger. Vermutlich ertrunken Bad Muskau.

Am 9.5.1996 wurde in der Neiße (Nähe Görlitz) ein nicht identifizierbarer Leichnam geborgen.

26.5.1996 Neiße, bei der Ortschaft Sagar. Ein vermutlich Ertrunkener.

Am 8.9.1996 wurde n aus der Neiße (Nähe Görlitz) zwei Leichname geborgen, bei denen es sich nach Auskunft der Polizeidirektion um ´Ausländer ohne Papiere´ handelt. (...)“

(Deutsche Bundestag, Drucksache 13/7376 vom 8.4.1997)

Diese List ist lang, sie wird länger.

 

Auf meine Anfrage teilte mir das Grenzschutzpräsidium Ost mit:

„ (...)Fall, der am 07. Juli 2000 für den Bereich Skerbersdorf dokumentiert ist. Hierbei handelte es sich um die versuchte Einschleusung von Ausländern. Hier eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse:
Durch eine Streife des Zolls wurde gegen 18:00 Uhr im Bereich Skerbersdorf ein Pkw mit deutschem Kennzeichen beobachtet. Im Fahrzeug befand sich eine Person als Fahrer. Um 18:05 Uhr fuhr das Fahrzeug erneut an der Zollstreife vorbei. Diesmal befanden sich sechs Personen im Fahrzeug. Der Pkw wurde daraufhin vom Zoll, angehalten. Insassen waren ein deutscher Fahrer, drei afghanische und zwei russische Staatsangehörige, die nicht im Besitz gültiger Aufenthaltstitel waren.

Durch eine weitere Streife des Zolls wurde eine Kontrollstelle im Bereich Skerbersdorf eingerichtet. Dabei wurde ein Pkw mit polnischem Kennzeichen beobachtet, der sich um 18:05 Uhr näherte. Als der Fahrer die Kontrollstelle bemerkte, ließ er mehrere Personen aus seinem Fahrzeug aussteigen. Anschließend fuhr er weiter. Der Pkw wurde daraufhin angehalten. Fahrer war ein polnischer Staatsangehöriger. Unter Beteiligung eines Polizeihubschraubers der BGS-Fliegerstaffel Ost erfolgte die Suche nach den geflüchteten Personen. Dabei konnten sechs russische Staatsangehörige in einen Waldstück durch Kräfte des Zolls festgestellt werden. Bei der Durchsuchung des polnischen Fahrzeuges wurden die Pässe sämtlicher Ausländer aufgefunden. 
Alle Personen wurden vorläufig festgenommen und zur BGS-Inspektion Bad Muskau verbracht.

Gesamt; 8 Russen (davon 4 Kinder)
3 Afghanen (davon 1 Kind)
1 Deutscher als Schleuser
1 Pole als Schleuser

Die beiden Schleuser wurden am 07.07.00 in die JVA Görlitz eingeliefert. : Der polnische Schleuser wurde später zu 6 Monaten Haft und der deutsche Schleuser zu 10 Monaten Haft verurteilt.
Die Ausländer wurden am 10.07.00 an den polnischen Grenzschutz übergeben.(...)“

Grenzschutzpräsidium Ost vom 10.10. 02 per Fax auf meine Anfrage vom 24.9.02

© Rainer F. Kokenbrink.

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