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Die Rückkehr

"Die Rückkehr" Andrej Swjaginzews

Als es dunkel wird, sitzt der Junge immer noch auf dem Turm. Schon vor Stunden hätte er von hier herunterspringen sollen, zehn, fünfzehn Meter tief ins Meer, wie seine Spielkameraden vor ihm. Aber Iwan hat sich nicht getraut. Er kauert auf der hölzernen Plattform, nackt bis auf die Badehose, und friert. Vom Damm, der den Turm mit dem Festland verbindet, nähert sich eine Gestalt. Es ist seine Mutter. "Komm runter." - "Ich kann nicht. Wenn ich nicht springe, nennen mich alle einen Feigling." - "Ich werde nichts verraten. Komm."

 Iwans Kindheit" könnte diese Geschichte heißen, so wie der Film, mit dem Andrej Tarkowski vor vierzig Jahren die Bühne des Weltkinos betrat. Aber sie heißt "Die Rückkehr". Dieser Titel paßt im doppelten Sinn, denn der Film, den Andrej Swjaginzew gedreht hat, erzählt nicht nur von einer Rückkehr, der Wiederkehr des verschwundenen Vaters ins Leben zweier Kinder, sondern er symbolisiert sie auch: die Rückkehr des russischen Kinos auf die Landkarte der Kinematografie. Und er bestätigt eine Erfahrung, die man alle paar Jahre bei der Begegnung mit einem Kinoerstling machen kann: Große Regisseure werden nicht allmählich groß. Sie sind sofort da, wo andere nie hingelangen werden, im ersten Anlauf. Andrej Swjaginzew ist ein großer Regisseur, und "Die Rückkehr" ist sein Debüt.

Der Blick eines Zwölfjährigen regiert den Film

Der Anfang des Films setzt den Ton für das, was folgt. Es geht um eine Mutprobe, einen Sprung ins Leere, dorthin, wo das Erwachsensein wartet oder der Tod. Vier Kinder springen vom Turm, eines bleibt zurück, aber die Kamera entfernt sich nicht von ihm, sondern schaut mit seinem Blick auf die davonlaufenden Kameraden. Es ist Iwans Blick, der die Geschichte regiert, und er sieht die Welt mit den Augen eines Zwölfjährigen: als Spektakel der Verwandlungen. Da ist die Kindheit, die langsam zerfällt, so wie die marode Industriestadt, in der Iwan mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder lebt; und, jenseits des Horizonts, das unbekannte Land der Zukunft, in das man nicht träumend und spielend hineingelangt, sondern plötzlich, ansatzlos, mit einem Sprung. Iwan zögert noch, ihn zu tun. Aber ein Feigling will er dennoch nicht heißen, seinen Bruder Andrej, der ihn verspottet, jagter durch die Straßen der Stadt bis zur Wohnung der Mutter.



In diesem Augenblick taucht Iwans Vater auf. Er kommt aus dem Dunkel einer Vorzeit, die nur durch ein einziges schwarzweißes Familienfoto dokumentiert ist; keines der beiden Kinder kann sich an ihn erinnern, und bis zum Schluß wird der Zweifel, ob er der wahre und richtige ist, durch ihre Köpfe spuken. Als man den Vater zum ersten Mal sieht, ragt er, auf dem Bett liegend, mit den Füßen voran ins Bild, so wie Andrea Mantegna seinen "Toten Christus" gemalt hat. Das ist, natürlich, ein Tarkowski-Zitat (aus "Stalker"), so wie vieles in diesem Film von Tarkowski ist, der Wind in den Bäumen, die Leere des Landes, das die Protagonisten durchfahren, die Namen der beiden Jungen, Andrej, Iwan. Gleichzeitig aber bildet die Einstellung präzise den Kinderblick ab, der auf den schlafenden Vater fällt, die Perspektive der Neugier und der Scheu, aus der Iwan und Andrej ihn betrachten. Und beiläufig, noch kaum entzifferbar, weist sie auch auf das Ende des Films, denn der Vater wird von der Reise, auf die er die beiden Jungen mitnimmt, nicht mehr zurückkehren. So wirkt Swjaginzews Film in allen entscheidenden Momenten immer zugleich symbolisch und real, er hält jene Balance, die im Kino am schwierigsten zu halten ist: zwischen dem, was ein Bild bedeutet, und dem, was man tatsächlich sieht; zwischen Geschehen und Allegorie. Es gibt fast kein Grundthema des jüngeren russischen Kinos, das Swjaginzew nicht anspielt, und doch gewinnt er jedem eine neue, überraschende Klangfarbe ab, als hätte er es gerade erst entdeckt.

Für westliche Ohren eine irreale Zahl

Man muß fünfzehn Jahre zurückgehen, bis zu den frühen Filmen von Sergej Bodrow ("S.E.R. - Freiheit ist ein Paradies") und Wassili Pitschul ("Kleine Vera"), um im russischen Kino eine vergleichbare Klarheit des Erzählens zu finden. Damals, Ende der achtziger Jahre, schien es für kurze Zeit, als könnte der Zusammenbruch des Sowjetsystems die Regisseure beflügeln, als gäbe er ihnen, indem er ihrem Tun die ökonomische Basis entzog, zugleich die Mittel an die Hand, den Mangel zu überwinden. Das war eine Illusion. In den neunziger Jahren war vom Kino Rußlands praktisch nichts zu sehen, wenn man Regisseure wie Nikita Michalkow und Alexander Sokurow beiseite läßt, deren Arbeiten mit ausländischem Geld kofinanziert wurden. Gangsterfilme, so las und hörte man, blühten in dem ruinierten Land, aber keiner von ihnen schaffte den Sprung auf die Leinwände des Westens. Als "Die Rückkehr" für den Wettbewerb des Festivals von Venedig nominiert wurde, setzten wenige auf den Film. Dann gewann er den Goldenen Löwen. Hunderttausend Dollar habe sein Film gekostet, sagte Swjaginzew in Venedig. Das ist für westliche Ohren eine irreale Zahl, so irreal wie die Vorstellung, daß der russische Regisseur sein Debüt mit einem Team von Debütanten gedreht hat. Nichts davon sieht man der "Rückkehr" an. Der Film wirkt vielmehr, als hätte er eine lange Ahnenreihe im Rücken, er ist ein Erbe jener handwerklichen Tradition, die mit der Auflösung des kommunistischen Kinoapparats erlosch. Damals wußte man, wie eine Parallelfahrt, ein Zoom, eine Landschaftstotale auszusehen hatte. Heute weiß Swjaginzew es wieder. Und er zeigt es, indem er seine drei Helden auf eine Fahrt ins Unbekannte schickt, die für jeden von ihnen ebenso wie für den Regisseur zur Prüfung wird.

Alles schon einmal gesehen - aber so noch nie

Denn die leere Stadt, der tiefe Wald, die einsame Ebene, der weite See, die abgelegene Insel, welche die Stationen dieser Reise bilden, sind ebensosehr Motive des Unterbewußten wie dramatische Schauplätze der Story. Was dort passiert, geschieht wirklich und zugleich wie im Traum. Zuerst ist es nur eine Angeltour, auf der die beiden Jungen, der gehorsame Andrej und der trotzige Iwan, ihren namenlosen Vater begleiten. Dann, plötzlich, ändert der Vater die Reiseroute; sie fahren, durch Wind und Regen rudernd, auf eine Insel im Ladogasee, wo der Alte, von den Jungen unbemerkt, eine Kiste ausgräbt und auf das Ruderboot lädt.
Was enthält sie? Wir werden es nie erfahren. Der Film interessiert sich nicht für den Fund, sondern für die Bewegung, die zu ihm führt. Auf der Insel im See geht Iwans Kindheit zu Ende, nicht langsam, sondern blitzartig, mit einem Sturz vom Turm, einem Unfall, einem Tod. Als die beiden Jungen wieder auf dem Weg nach Hause sind, ohne den Vater und seinen Schatz, betrachten sie die selbstgemachten Fotos von der Reise, als müßten sie sich vergewissern, daß sie das, was passiert ist, wirklich erlebt haben. Die Kamera schaut ihnen zu, und es ist, als hätte man das alles schon einmal gesehen. Aber so noch nie.

Text: Von Andreas Kilb
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.03.2004, Nr. 77 / Seite 37